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zwar, aber unweigerlich ins absolut Unerträgliche stei-
gerte. Ich schmeckte bittere Galle auf meiner Zunge und
kämpfte mühsam gegen den Schwindel an, während ich
die Tür aufschob.
Genau wie der Eingang im Erdgeschoss, war auch diese
Tür nur angelehnt. Anders als diese quietschte sie aber
keineswegs, sondern schwang nahezu von allein auf, als
ich sie mit der flachen Hand berührte, und gab den Blick
frei in ein Zimmer das ich nur zu gut kannte.
Ich war niemals hier gewesen, um mir vielleicht Schel-
te für heimliches Rauchen in einer vermeintlich unbeob-
achteten Ecke, für das Pfuschen in der Englischarbeit,
das Abschneiden von allzu verlockenden langen Zöpfen
mit der Papierschere oder für das Spucken von durch-
genuckelten Papierkügelchen abzuholen. Abgesehen
davon, dass die allermeisten dieser Dinge ohnehin nie auf
mich zugetroffen hätten (abgesehen von der Sache mit
den Klassenarbeiten ich glaube nicht, dass ich ein
dummer Schüler war, aber hin und wieder war ich eben
etwas bequem), sondern eher auf einen beachtlichen Teil
meiner Mitschüler, hatte ich dieses Internat nie besucht.
Ich war nie in diesem Rektorzimmer gewesen. Trotzdem
wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass es genau dieses
war, das ich im flackernden Licht des Feuerzeuges, das
mir langsam, aber sicher den Daumen der rechten Hand
verkohlte, und durch einen Schleier von Tränen, die der
unerträgliche Schmerz in meinem Kopf mir in die Augen
getrieben hatte, erspähte. Der Raum war groß über-
raschend groß eigentlich, selbst für ein Rektorzimmer.
Ich war sicher, dass er mindestens die halbe Etage für
sich allein beanspruchte, und wäre wahrscheinlich er-
staunt gewesen, wäre er mir nicht so unglaublich vertraut
vorgekommen und wäre der Schmerz hinter meiner Stirn,
in meinem Hinterkopf und sogar in meinem Nacken nicht
ganz so grausam gewesen. So aber nahm ich das, was ich
durch den Tränenschleier hindurch erkennen konnte, eher
sachlich als tatsächlich interessiert oder gar neugierig zur
Kenntnis und konnte mir längst nicht mehr erklären,
warum ich eigentlich hier war. Das hatte ich mir ohnehin
eigentlich nie richtig erklären können.
Der Raum war mit bis zur Decke reichenden dunklen
Massivholzregalen eingerichtet, die mittlerweile voll-
kommen leer vor sich hin staubten und kaum mehr als
ein Dutzend Spinnen (Spinnen! Es wurde wirklich Zeit
für mich zu gehen!) beherbergten. Dennoch konnte ich
die Unmengen von dicken, in Leder gebundenen Büchern
und Aktenordnern, mit denen dieses Zimmer einmal nur
so voll gestopft gewesen sein musste, lebhaft vor meinem
inneren Auge sehen. Dazu gab es einen einzigen, eben-
falls leeren Schrank, dessen Scharniere der Last der
Jahrzehnte längst nachgegeben hatten und die Türen
nicht mehr zu tragen vermochten, so dass sie schräg nach
innen weggekippt waren und wahrscheinlich nur eines
einzigen Lufthauchs bedurften, um endgültig auf den
dunklen Bodendielen zu landen. Auch ein Bett ohne Rost
und Matratze, ein wuchtiger Schreibtisch und ein eben-
falls staubiger, von der Feuchtigkeit der Luft, die durch
das glaslose Fenster eindrang, rissig und spröde
gewordener Ledersessel gehörten zum Mobiliar. Obwohl
der Raum offenbar seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt
worden war, schimmerte die Pracht längst vergangener
Zeiten unverkennbar durch die nahezu zentimeterdicke
Staubschicht hindurch. Mahagoni. Alles hier war aus
Mahagoniholz gefertigt, mit Schnitzereien versehen und
ein kleines bisschen größer, dicker und stabiler als tat-
sächlich nötig. Im Grunde genommen betrat ich eine
Luxus-Ausgabe der Schülerzimmer, die von Thun uns für
die Nacht zur Verfügung gestellt hatte.
Besonders der Schreibtisch in der Mitte des Raumes
musste jeden Antiquitätenhändler, selbst so, wie er da-
stand, also halb verborgen unter einer Masse von
Staubweben, aus denen man sich mit etwas Geschick
vielleicht schon einen kleinen Kelim weben konnte, an
die Schwelle zum Orgasmus treiben. Er war noch immer
ein Traum aus Mahagoni, mit liebevollen Schnitzereien,
vergoldeten Schmuckleisten und reich verzierten, filigran
wirkenden obgleich mit Sicherheit äußerst stabilen
vergoldeten Griffen an den Schubladen versehen, von
denen sich rechts und links jeweils vier zwischen Tisch-
platte und Boden übereinander reihten.
Ich wusste, dass sich die Schubladen nicht öffnen
ließen. Ich probierte sie dennoch einzeln durch, um mir
absolute Gewissheit zu verschaffen. Nachdem ich einen
Moment lang vergeblich an den staubigen Goldgriffen
gerüttelt hatte, ließ ich mich vor dem antiken Möbelstück
in die Hocke sinken und tastete, zielsicherer, als mir
selbst lieb war, über eine der mit winzigen Blumenorna-
menten versehenen Schmuckleisten des Tisches. Meine
Finger drückten nahezu automatisch auf eine bestimmte
Stelle, die mit einem leisen Klicken nachgab. Ich hörte
ein Geräusch wie das einer einrastenden Feder und wie
sich zeitgleich etwas auf der Rückseite des Schreibtischs
bewegte, umrundete ihn in schwankendem Gang und ließ
mich schnell wieder auf die Knie nieder, ehe das Schwin-
delgefühl übermächtig werden konnte. Dennoch fiel es
mir schwer, den Kopf oben zu behalten, während ich in
das kleine, kaum handbreite Fach griff, das der Druck-
mechanismus auf der Rückseite des Tisches durch das
Verschieben einer kleinen Holzleiste freigegeben hatte.
Der hämmernde Schmerz hinter meiner Stirn, das an ein
Dröhnen grenzende Rauschen in meinen Ohren, das
Gefühl, jemand hätte mir die Schädeldecke aufgesäbelt,
Wasser hineingefüllt, die Öffnung verschlossen und wäre
nun damit beschäftigt, mir unaufhörlich Luft in den Kopf
zu pumpen all das machte mich wahnsinnig. Ich
schmeckte bittere Galle und ätzende Magensäure. Meine
Beine begannen zu kribbeln.
Meine Hände ertasteten Papier. Ein stechender Blitz
durchfuhr meinen Kopf, ließ mich gequält aufschreien
und trieb mir so heftig die Tränen in die Augen, dass ich
sie nicht mehr zurückhalten konnte. Sie rannen mir über
die eiskalten Wangen und tropften auf den Boden zu
meinen Füßen hinab. Ich steckte das Feuerzeug ein.
Selbst das wenige Licht, das es zu erzeugen vermochte,
quälte meine Augen, und sie fühlten sich an, als seien sie
ein Stück weit aus den Höhlen hervorgequollen und von
unzähligen geplatzten Äderchen durchzogen. Was zum
Teufel war das nur? Was geschah mit mir? Ich hatte
immer behauptet, es gebe nichts Schlimmeres als Zahn-
schmerzen oder einen ausgewachsenen Migräne-Anfall.
Das, was in diesem Moment mit mir passierte, war
allerdings viel schlimmer als beides zusammen. Ungefähr
so stellte ich mir eine Schädelamputation bei vollem
Bewusstsein vor.
Ich wusste, dass ich mich nicht mehr lange in dieser
hockenden Position halten konnte, zog mich mit mächti-
gem Kraftaufwand und dabei mit aller Macht gegen den
aufsteigenden Brechreiz ankämpfend an der Tischplatte
hoch, umrundete den Tisch ein zweites Mal, wobei ich
mich mit beiden Händen daran abstützte, und ließ mich
stöhnend in den staubigen Ledersessel auf der anderen
Seite fallen. Für die Dauer von zwei, drei endlos langen
Atemzügen schloss ich die Augen und lauschte meinem
rasenden Herzschlag, der das Rauschen in meinen Ohren
noch übertönte. Mein Atem ging schnell und schwer, und
ich bemerkte, wie trotz verschlossener Lider bunte Punk-
te vor meinen Augen zu tanzen begannen. Es hatte
keinen Sinn ich würde das Bewusstsein verlieren,
unabhängig davon, ob ich gerade stand, hockte oder
weiterhin mit geschlossenen Augen hier saß.
Ich hob die Lider ein winziges Stück an, so dass mein
Blick gerade eben den kleinen Bereich erfasste, in dem
sich meine Hände befanden, zog das Feuerzeug wieder
hervor, entzündete es und betrachtete angestrengt, was
meine Hände aus dem kleinen Geheimfach gezogen hat-
ten, während die Tränen in einem Sturzbach über meine
Wangen flossen, der sich wie Lava auf meiner kalten
Haut anfühlte.
Fotos. War es das, weshalb ich hier war? Ein paar alte,
größtenteils in Schwarzweiß aufgenommene, vergilbte
und an den Rändern von der Zeit zerfressene Fotos?
Auf den meisten waren verschiedene Schulklassen in
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